Logbuch
SOHN OHNE VATER.
Vor einem Vierteljahrhundert habe ich einen damals jungen Dichter kennengelernt, der Mut zur Provokation hatte und Lust in Kulturveranstaltungen aufzutreten, die ich zu organisieren hatte. Gestern lese ich im Feuilleton des Tagesspiegel, dass er der anerkannteste deutschsprachige Gegenwartsdichter sei. Das freut mich für ihn.
Der damalige Titel lautete „Kanaksprak“, oder so ähnlich; jedenfalls ist der sprachmächtige Feridun Zaimoglu gebürtiger Türke und als originär deutscher Dichter gelobt, schließlich als Person zu einer geradezu orientalischen Freundschaft in der Lage. Ich meine das im positivsten Sinn, den das Wort haben kann. Ich greife gestern zum Handy und, tatsächlich, ich habe noch eine Nummer. Er geht ran. Ich gratuliere zum Votum des Feuilletons und sage ihm: „Ich habe Dich Arsch entdeckt!“
Jetzt kommt das, was ich orientalisch nenne; er bestätigt und lässt sich die wunderbarsten Dankesformeln einfallen. Alles halbwahr, aber vollnett. Mir fällt dabei ein, dass ich ihn mal in Kiel besucht habe, in Begleitung einer Mitarbeiterin. Es war ein langer Tag und ich ging zeitig ins Bett. Die junge Frau und der charmante Dichter sollen aber noch um die Ecken gezogen sein. Sie hatte morgens deutliche Schatten unter den Augen. Das habe ich jetzt nicht wieder erwähnt, weil gefährlich. Man könnte im nächsten Roman landen.
Zaimoglu dichtet mit spielerischer Phantasie und märchenhaften Bildern sehr nah am Leben. Er ist ausdrucksstark bis ins Groteske. Er kann Paradoxie. Ich glaube keine Sekunde, dass es in SOHN OHNE VATER (sein neuer Roman) um Dritte geht. Feridun, Du hast Recht, den Verlust des Vaters gleicht nichts aus. Auch den des vermissten. Um die verstorbene Mutter kann man trauern; den verlorenen Vater ersetzt nichts. Es bleibt einfach ein Loch. Jedenfalls bei mir, der ich nun wirklich in vielem der Sohn meines Vaters bin.
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GESTAPO.
Die Geheime Staatspolizei, kurz GESTAPO, gehört zu den dunkelsten Kapiteln deutscher Geschichte. Hier wurde staatliche Gewalt direkt in die Hände der marodierenden Faschisten gegeben, die sie zum Terror und Völkermord missbrauchten. Es schmerzt mich, wenn rechtspopulistische Propaganda aus den USA nunmehr behauptet, solche Zustände gäbe es wieder in meinem Vaterland.
Denn das stimmt nicht; ist aber als polemischer Vorwurf offenkundig trotzdem möglich. Genannt wird dabei immer wieder ein Fall, in dem eine Weitergabe der Karikatur des grünen Wirtschaftsministers nach einer Werbung für Frisörbedarf zu einer Hausdurchsuchung bei dem spottenden Bürger führte und der Beschlagnahmung seines PC. Der betroffene grüne Politiker soll hunderte von derartigen Anzeigen gestellt haben. Wir haben inzwischen eine internationale Propaganda gegen deutsche Innenpolitik als polizeistaatlich.
Ich würde das gerne entschiedener zurückweisen, weil ich kein Parteigänger der Neuen Rechten bin, auch nicht, wenn sie in den USA Regierungsämter besetzt, in die sie mittlerweile legitim gewählt worden ist. Erneut sage ich dem amerikanischen Freund: „Ich bin nicht überzeugt!“ Und es gilt das Brecht-Wort: Jeder möge sich um seine Schande kümmern; ich kümmere mich um meine.
Ich verstehe im Grünen Universum einen Grundwiderspruch nicht. Zum einen ist man DIVERS und dem Leben in all seinen Ausprägungen positiv zugewandt. Ich teile eine offene Haltung zu kultureller Vielfalt. Zum anderen ist man ideologisch RIGOROS. Bei den grünen Tabu-Themen wird keine abweichende Meinung toleriert; man ist bei Kritik sofort tief beleidigt und wird sehr fanatisch. Weltoffen und engherzig, wie passt das zusammen? Freizügig und illiberal, das geht? Wer die falschen Witze macht, den besucht die Polizei. Ernsthaft?
Wenn doch nur Preußen wieder ein Vorbild wäre, weil jeder nach seiner Façon selig werden kann. Ein Vorbild für die freien Völker. Das ist so? Echt? Dann ist alles gut und ich schalte die Propaganda ab. Oder ich gucke einfach einen anderen Weg. Das erlauben sie ja noch, die neuen Rechten.
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GIERAFFEN.
Von der Giraffe waren schon die Alten fasziniert; man hielt sie für eine anmutige Kreuzung aus Kamel und Leopard und rühmte ihre Weitsichtigkeit. Letzteres kein Wunder bei diesem Hals. Er bot ihnen auf der kargen Steppe zudem Zugang zu den Kronen der Bäume, sprich saftiges Futter, das allen anderen Paarhufern verwehrt war. Einen langen Hals machen. Hat das längste Tier auf Gottes Erdboden diesen Vorteil durch besonders eifriges Recken erlangt?
Diese Frage interessiert die Biologie, namentlich die Lehre von der Evolution. Das ist die Disziplin von Charles Darwin, der die Welt bereisend und eifrig Logbücher über Transformation führend, zu den wichtigsten Denkern der Menschheit wurde. Er kam darauf, dass die Natur außer in sich selbst keinen Sinn, keinen Zweck und kein Ziel hat; das ist bis heute nicht so recht verstanden. Es fällt vielen schwer, die Menschwerdung des Affen nicht als göttlichen Plan zu denken. Natur ist aber nur der sich zufällig bewährende Zufall.
Die Giraffe hat sich das mit dem langen Hals nicht überlegt und dann durch ehrgeiziges Recken gelernt. So wie Geige spielen oder in der Bibel lesen. Erlerntes geht ohnehin nicht in die Gene, wird also auch nicht vererbt. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Zufällige Modifikationen bei dem leopardenhaften Kamel haben nach unzähligen Generationen dazu geführt, dass die mit den längeren Hälsen mehr Nachwuchs hatten und gesünderen: survival of the fittest. Jeder in seiner Nische. Die Natur ist profan; die Steppe gebiert die Giraffe.
Das versteht das auf Idylle ausgelegte Weltbild der grünen Ersatzreligion nicht. Mit der Erkenntnis muss die selbsternannte Krone der Schöpfung erstmal zurechtkommen. Wir sind das Ergebnis von jenen Mutationen, die überlebten. Das idyllische Paradies ist ein Gegenentwurf. Wir sind aber eigentlich nur zufällig bewährte Zufälle. Na ja, vielleicht nicht ganz so zufällig, wie man meinen könnte. Arbeit war es schon. Und es brauchte Ehrgeiz. Gier-Affen halt.
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PREDIGER.
Besuch in einem Kloster der Prediger. Man nimmt das ernst, das Predigen. Daher auch eine Schule, Mauer an Mauer mit dem Dom. Man hat die Katholen hier im auslaufenden 19. Jahrhundert in ein Industriemilieu gelassen, um die zugewanderten Polen vor den Kommunisten zu schützen, erzählt mir der Vorsteher der Prediger, ein feiner Mann hoher Bildung und den Menschen zugewandt. Ich erwische mich dabei, seine Seelsorge zu schätzen.
Überhaupt ist das Kloster eine Insel besseren Lebens; aber eben nicht als Refugium, als eine Fluchtburg des Klerus, sondern dem Banalen und dem Bösen die Stirn bietend. Man hat in Waisenhäusern unterrichtet. Und im örtlichen Knast Seelsorge geboten, was immer das nützt. Jedenfalls jetzt eine sehr ordentliche Grundschule. Man ist dankbar für solch eine Insel der Kultur.
Wie sich auch Familie als Insel versteht. Im Schutz für die Nachgeborenen vor der sorglosen oder gar feindlichen Nachbarschaft oder gar dem Fremden. Heimat sollte auch so eine Insel der Geborgenheit sein, vor der fernen Fremde. Freundschaften oder große Lieben können als solche Horte gelten, Inseln der Zugewandtheit. Was mich an Elysion erinnert, die sprichwörtliche Insel der Seligen in der griechischen Sagenwelt.
Immer ist das Geborgene eine Ausnahme im rauen Meer der gefährlichen Untiefen und bösen Stürme. Dieser Mythos verblasst nicht. Jedem sein Elysion. Die Moderne beginnt mit der Erzählung des Robinson Crusoe, jenes Mannes, der sich in entlegenster Wildnis ein Heim zimmert. Der Soziologe nennt das die Selbstkonstitution durch Arbeit. Eine Insel bauen. Arbeit als Glaube.
Bei den Predigern brauchen sie dazu noch die Gottesvorstellung. Der Vorprediger sagt, Gott wohne im Dom, das sei das Haus Gottes. Als Protestant weiß man, dass das eine Metapher des Volksglaubens ist. Denn der Herr hat gesagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Matthäus, glaube ich. Auf jeder Insel, also. Ende der Predigt.